Sonntag, 23. März 2014

"Bombay Talkies" - 100 Jahre indisches Kino

Avinash, ein junger Mann Anfang zwanzig, stürmt in sein Elternhaus, reißt seinen Vater aus dem Mittagsschlaf und presst ihn brutal gegen die Wand. "Ich bin schwul", schreit er und lässt eine erbitterte Anklage gegen ihn los. Sein Vater, als Professor, sozial in der wachsenden Mittelschicht Indiens angesiedelt, hatte ihn in erbärmlicher "Du-bist-nicht-mehr-mein Sohn"- Attitüde als Eunuchen beschimpft und vor einiger Zeit aus dem Haus geworfen. Ebenso plötzlich lässt der Sohn von ihm ab, die Kamera ganz auf sein junges, wutverzerrtes Gesicht konzentriert, in dem kurz ein hilflos ironisches Grinsen aufflackert, das tiefe Resignation zeigt: welch sinnloser Versuch, seinen Vater noch einmal mit seiner Homosexualität zu konfrontieren. So beginnt der erste der vier Kurzfilme, die unter dem Titel "Bombay Talkies" dem indischen Kino gewidmet sind, das 2013 seinen 100. Geburtstag feierte.
Avinash findet eine Anstellung in einem Verlagsbüro und lernt Gayatri, eine Kollegin, kennen. Er outet sich beim ersten Kennenlernen als schwul. Er ist geradezu wild darauf, sich zu outen, wild aufs Leben und stürmt voran als gäbe es kein Morgen. Sein Verhältnis zu Gayatri ist von Anfang an von großer Offenheit und viel Humor geprägt. Bald kommt es zu einer privaten Einladung, bei der er ihren Mann Dev kennen lernt. Instinktisicher wittert Avinash in ihm den verkappten Schwulen, der er es irgendwie geschafft hat, sich in einem  heterosexuellen Leben zurecht zu finden. Aber für Avinash zählen diese Mühen nicht, er geht unumwunden auf Dev zu. Schon am nächsten Tag führt er ihn zu einer Bahnüberführung, die - wie überall in Indien - bevölkert ist von Bettlern, Händlern und Obdachlosen. Dort singt ein Mädchen mit glockenheller Stimme Tag für Tag das gleiche Liebeslied - einen berühmten Schlager aus einem alten Bollywoodfilm. Durch die Bekanntheit dieses Liedes und wegen ihrer begabten Stimme kann sie ihre Familie ernähren. Wie ein Liebesgeständnis und die Verheißung auf ein sexuell erfülltes Leben prallt diese kleine Performance auf Dev ein. In dieser Szene mit dem Mädchen, das noch drei weitere Male  auftritt, bricht sich die Geschichte wie in einem Prisma eruptiv und auf eigentümlich tragische Weise hoffnungsvoll: Ein junger Homosexueller, der eine Ehe zerbricht, alle Betroffenen ihrer kunstvollen wie nützlichen Verwirrung beraubt und sie in ein schmerzhaft unkonventionelles, aber authentischeres  Leben stößt - ganz großes Kino unter der Regie von Karan  Johar.
Eine weitere Geschichte dieses Epsiodenfilms geht in eine ähnliche Richtung. Ein 12-jähriger Junge will kein Fußball spielen. Nichts ist ihm mehr zuwider als dieses Gehampel zwischen den trainierten Fußballerbeinen seiner weit talentierteren Mitschüler. Sein Vater hat viel Geld für diesen Klub bezahlt, in dem sein Sohn seiner männlichen Bestimmung entgegentrainieren soll. Beschämt steht er am Spielrand, wo er die hilflosen Versuche seines Jungen beobachtet, an den Ball zu kommen. Letztendlich ist der schmächtige Junge nur ein lästiges Hindernis, das man locker umtänzelt in einem Spiel, das ohne ihn stattfindet - eine schöne Allegorie auf die indische Mittelklasse und ihren unerbittlichen Normen: entweder mitspielen und gewinnen oder nutzlos und lächerlich sein. Das verhasste Training wird auf drei Mal die Woche erhöht und die Klassenfahrt der älteren Schwester gestrichen, für die jetzt kein Geld mehr da ist.  In einer der nächsten Szene steht der Junge tief versunken vorm Spiegel und zieht sich die glitzerndsten Fummel seiner Schwester an. Er schminkt sich wie er es immer sehnsüchtig bei seiner Mutter beobachtet hat, die Lippen, steckt sich Schleifen ins Haar und tanzt selig und selbstverliebt seiner Schwester entgegen. Er will wie sein Idol Katrina Kaif Bollywoodschauspielerin werden und hat sich bereits ein beträchtliches Repertoire angeeignet, das die Regisseurin Zoya Akhtar durch ihren Helden auf ungewöhnliche Weise zum Einsatz bringt.
Zwei der Episoden von "Bombay Talkies" spielen auch in ärmeren Verhältnissen. Dibarkar Banerjee lässt seinen Protagonisten, einen arbeitslosen Schauspieler, in eine Filmszene stolpern, für die die Straße abgesperrt wurde. Eine große Menschenmenge hat sich bereits versammelt und unvermutet wird er als Statist für eine kleine Rolle ausgewählt. Mit seiner Miniregieanweisung wird er in einen stillen Hinterhof eines riesigen Hotels geleitet, wo er alleine und in aller Ruhe seine Rolle einstudieren soll. Nur ein einsames Faktotum des Hotels sitzt vor einem leeren Schreibtisch und liest - ein Statist des Lebens wie er selber. Surreal erhebt sich aus der Mülltonne sein bewunderter Regiemeister, dem er einst nachstrebte.
Dieser gibt ihm die wichtigsten Anleitungen und man erhält ganz nebenbei eine Lektion in guter Schauspielkunst. Benommen von dieser fiktiven Begegnung spielt er mit vollem Einsatz und großem Ernst seine winzige, unspektatuläre Szene. Zu Hause spielt  er seiner kranken Tochter die ganze Episode, wie er zu seiner Rolle kam und die Rolle selbst vor. In der Wiederholung vergrößert er seinen Einsatz pantomimisch ins Riesenhafte und bringt sein Kind damit zum Lachen. Diese Doppelung von gespielter Rolle zu nachgespielter Bedeutung als Pantomime ist bemerkenswert. Liebenswert wird dieser gescheiterte Mann und seine fragilen Verhältnisse geschildert und zeigt das Kino aus der Sicht eines Underdogs. Diese geht auf eine Kurzgeschichte von Satyajit Ray's "Patol Babu, Film Star" zurück.
Die letzte Epsiode dieser Kurzfilme ist die rätselhafteste und lässt selbst hartgesottene Indienreisende verwundert zurück. Vijay aus Allahabad soll seinem sterbenden Vater einen letzten Wunsch erfüllen. Er soll einem der berühmtesten Schauspieler Indiens, Amitabh Bacchan, auch Big B genannt, eine süße eingelegte Frucht bringen, eine von diesen klebrigen Süßspeisen, die in Indien so beliebt sind und ihn davon abbeißen lassen. Schon er musste seinem Vater einen ähnlichen Wunsch erfüllen und ein Glas mit der Süßigkeit dem  damaligen Superstar bringen, der seinen Finger in den Honig stippen und davon kosten sollte. Sein Großvater lebte daraufhin noch viele Jahre, indem er - nach dem Aberglauben aller - immer wieder von dem durch den Star geadelten Honig naschte. Nun macht sich auch sein Enkel Vijay auf die lange Zugreise nach Mumbai, um das Domizil des heutigen Stars aufzusuchen. Dort findet er  bereits eine beträchtliche Fangemeinde vor, die sich in skurilen Posen auf eine lange Wartezeit für eine kurze Audienz bei dem Meister eingerichtet haben.
Das ist wohl der indischste Film in dieser Reihe, der etwas von der Schicksalsergebenheit und dem Talent zum improvisierten Leben erahnen lässt. Die Geschichte endet glücklich, weil nach vielen Wochen auch er nach einer strengen Liste der Anwärter eine Audienz bei Big B bekommt und das Gebäck von ihm persönlich angebissen in das Glas zurückwandert. Erstaunlich - zumindest für uns westliche Zuschauer -  wie ein so vielbeschäftigter Schauspieler ohne zu zögern die Dringlichkeit des Anliegens erkennt, sich keineswegs darüber erhebt und sich auch nicht scheut, das triefende, wenig frisch wirkende Gebäck genießerisch und höchst nachdenklich in den Mund zu schieben. Man ahnt mehr als das man es weiß, dass ein großer Schauspieler in Indien nur sein kann, der ein Herz für sein Publikum und ihre skurilen Wünsche hat. Unerwartet lässt der Regisseur Anurag Kayshap diese Geschichte in einem karmischen Zirkel enden, der einen tiefen Einblick in die indische Grundeinstellung zum Leben offenbart.
Diese Anthologie von vier erfolgreichen Filmemachern kam 2013 sogar ins indische Kino, das normalerweise lange Spielfilme mit unglaublich verwickelten, wenig realistischen Storylines und oft übersteigerten  Helden zeigt. Leider kommt in "Bombay Talkies" keine einzige weibliche Hauptrolle vor. Aber  man findet  außergewöhnliche Helden, die vom so heiß begehrten und so schwer zu erreichenden mainstream Indiens ausgeschlossen sind. Sogar ins Auswahlmenü der Air India hat der Film es geschafft. Dort kann man ihn in aller Ruhe mit den gängigen Erolgsfilmen à la Bollywood vergleichen und einen Eindruck von der Bandbreite des indischen Filmkontinents gewinnen - vorausgesetzt man betrachtet bereits den Flug als echte Chance, sich einzustimmen auf ein Land, das wie kein anderes eine Filmproduktion am Laufen hält, die weltweit unvergleichlich ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen