Donnerstag, 14. November 2013

Alice in der Hölle: der zweite Roman von Mohmamed Hanif

"Our Lady of Alice Bhatti" heißt der zweite Roman des pakistanischen Journalisten und Schriftstellers Mohammed Hanif. Auch hier werden - wie in seinem Debütroman "A Case of Exploding Mangoes" - die gesellschaftlichen Verhältnisse seines Landes beschrieben. Die Heldin des neuen Plots ist Alice Bhatti - sie  stammt aus dem berüchtigten Viertel French Colony in Karachi, einer Community von Straßenkehrern, einer der untersten gesellschaftlichen Klasse. Damit noch nicht genug, gehören sie außerdem zur Minderheit von katholischen Christen, die, wie Supriya Nair in ihrer Besprechung zu Hanifs Roman schreibt, im überwiegend muslimischen Pakistan wie Kastenlose in Indien behandelt werden.

Staßenfeger in Bombay, Foto: Hitesh Ashar(wikimedia)
Trotz dieser diskrimienierenden Herkunft ist Alice Bahtti keinseswegs gewillt, ein Opfer zu werden - erst recht nicht nach dem frühen Tod ihrer Mutter. Diese,  als Dienstmagd bei den Reichen angestellt, kommt angeblich bei einem Sturz zu Tode. Aber die Leichenwaschung zeigt, dass sie blutunterlaufene Stellen an der linken Brust und Reste von Sperma auf ihrem Körper hat. Eiligst wird der Pfarrer bestochen, der dann bei der Beerdigung von einem tragischen Unfall spricht. Das ist der Start Alice Bhattis in ihr verfrühtes Erwachsenenleben im Alter von 12 Jahren. Und sie läßt sich nichts einschenken, im Gegensatz zu ihrem Vater, der vor allem eines verhindern will: Nicht zu den Tätern gehören. In dieser Hölle will er lieber als Opfer sterben.
"They think we are shit-cleaners. Yes, we are shit-cleaners, but what are they? Shit."
Die Privilegierten und Reichen, die Alice in ihren Gedanken "shit" nennt, können sich ungesühnt alles erlauben, Geld und Beziehungen werden sie freikaufen. In einer grotesken Verzerrung stilisieren sich die Täter zudem zu Opfern. Dieser Druck für die, die sich nicht wehren können, deren Leben prekär und ungeschützt ist und die jederzeit kriminalisiert werden können, muss irgendwohin abfließen und der Abladeplatz für wirklich alles - das sind die Frauen. Hanif ist in seiner Schilderung, was die Rolle der Frauen in der pakistanischen Gesellschaft angeht, so scharf und unmißverständlich, wie man es selten zu lesen bekommt.
"During her house job she worked in Accidents and Emergencies for six months  and there was not a single day - not a single day - when she didn't see a woman shot or hacked, strangled or suffocoated, poisoned or burnt, hanged or burried alive. Suspicious husband, brother protecting his honour, jilted lover avenging his honour, feuding farmers settling their water disputes, moneylenders collecting their interest: most of life's arguments, it seemed got settled by doing various things to a woman's body. A woman was something you could get as loose change in a deal made on a street corner."
Foto: Ina Zeuch (Straßenszene in Kolkata)
Alices Werdegang, ihre wirre Lebenslinie, die vom Knast über ihre Tätigkeit als Lernschwester in einem katholischen Krankenhaus zu religiöser Verzückung und Wunderheilerin ein unvorhersehbares Muster erzeugt, ist einer der Erzählstränge. Ein anderer ist Ted Butt, die zweite Hauptfigur des Romans, der "clean-up boy" einer nicht registrierten Polizeieinheit. Diese ist vor allem dafür da, jegliche Gesetze bei der stupiden Erfüllung von Erfolgsraten zu übertreten. Unschuldige zu Delinquenten zu machen oder Tathergänge zu fingieren ist, je nach Dringlichkeit des Falles, für sie Routine. Und das Herz Jesu-Hospital, in dem Alice Bhatti arbeitet, stellt hier und da schon mal Totenscheine aus - wenn der diensthabende Arzt nicht gerade zufällig betrunken ist und in diesem Zustand das ansonsten abwesende,  hemmende Gewissen entdeckt, einer der typischen Zynismen Hanifs in diesem Roman.

In diesem Krankenhaus lernt Ted Alice kennen. Eine kurze, linkische Werbung führt wie in einem billigen Blockbuster-Movie zu seiner  romatischen Heiratsanfrage,  in die sie überraschenderweise einwilligt. Er hat, womit er gar nicht rechnete, plötzlich eine Frau. Alice scheint derweil zu glauben, dass ihre Unsicherheit als ständig sexuellen Repressionen ausgesetzten Wesens nun ein Ende hat. Man kann nur vermuten, dass das vielleicht einer ihrer Motive für  diese kitschig-romantische Heirat mit einem Mann ist, den sie kaum kennt. Aber zu schnelle Wunscherfüllung kann überfordern, und das ist, was Hanif in dieser kurzen Ehe nachvollziehbar beschreibt: die Fremdheit, die Annäherungen, die überraschend aufscheinenden Schnittmengen und dann wieder Fremdheit, Misstrauen.

Wohn- und Arbeitssstätte, Kolkata. Foto: IZ
Ted's Karrierepläne gehen derweil schief. Er jagt einem ihm entwichenen, hochgefährlichen Terroristen hinterher. Aber wie gefährlich ist dieser wirklich, der nur das Mofa des Gesuchten fuhr und also ein anderer ist? Oder ist er erst durch die erlittene Folter gefährlich geworden, kriminalisiert durch falsche Beschuldigungen, der dadurch als selbsterfüllende Prophezeiung genau das tut, weswegen man ihn unschuldig angeklagt hat? Es sind diese Unwägbarkeiten, die latent allgegenwärtig lauernde Gewaltbereitschaft, die die Geschichte vorwärts treiben. Die Erzählstruktur ist wie ein Flickwerk, in einzelnen Splittern muss sich der Leser das Bild zusammensetzen, aber besonders der westliche Leser bleibt oft mit Verständigungslücken zurück, vor allem was die religiöse Verzückung angeht. Es scheint, dass ein System, dass Menschen eine Lebensplanung unmöglich macht und wo - wenn man dem Roman Glauben schenkt - eine große Anzahl an Menschen eines unnatürlichen Todes sterben, anfällig für religiöse Parallelwelten ist.

Das Krankenhaus und die illegale Truppe der Polizei, in dem Ted seine Zukunft geplant und verheizt hat, dienen Hanif als Prisma, durch die er die Konflikte schärft und teils ins Groteske verzerrt. Ist Ted nur einer dieser "fashion victims with no individuality"? Welche, die auf ihren Mofas mit Baseballkappen umherfahren, aussehen wie jedermann und dann plötzlich Amok laufen? Der wenig weise Rat von seinem väterlichen Ex-Boss, Inspektor Malangi, wie er mit seiner jungen, vermeintlich abtrünnigen Braut Alice umzugehen hat, läßt ihn zum Täter werden - auf einem erschreckend niedrigen menschlichen Niveau, dem sich irgendwie die meisten  Protagonisten des Romans unerbittlich anzunähern scheinen und damit die Welt zu einem Ort der Hölle machen.
Rätselhaft bleibt die Kombination von Massenverzückung, Aberglauben und Gewalt, wie wenn sie irgendwie zusammen gehörten in einer absurden Harmonie, die niemand versteht. Oder nur wir als westliche Leser nicht? Oder wie es - wesentlich abgeklärter - Parul Sehgal in der New York Times über die handelnden Personen in seiner Rezension ausdrückt:  
"They behave badly out of sheer stupidity or on instruction. But, bless them, they are lovable goons."

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