Samstag, 21. November 2015

Das Märchen von der Integration - eine Geschichte aus der Welt des Simenon

"Der kleine Mann von Arkhangelsk" heißt der Roman Georges Simenons von 1956, von dem man im Wesentlichen die Erfindung seiner Figur des Kommissars Maigret kennt. Maigret, der sich wie ein monolithischer Block durch die Verbrechen der Pariser Kriminalität von Gier, Eifersucht, verschmähter Liebe und Rache fräst, betreibt die Aufklärung seiner Fälle weniger mit Talent als mit der Einstellung, ein Verbrecher sei wie wir alle, aber an einem bestimmten Punkt unter erheblichem Druck der Verhältnisse vom Wege abgekommen. Neben den zahlreichen Maigretfällen hat Simenon aber auch eine Reihe von Romanen geschrieben, die weit weniger bekannt sein dürften und vor allem die Nachkriegsgesellschaft der 50er Jahre in Frankreich beschreiben. Diese Zeit weist außer den höchst Frankreich-spezifischen Fakten der Kolonialkriege in Algerien und Indochina eine beachtliche Schnittmenge mit den deutschen Verhältnissen auf.
Umschlagbild der französischen Ausgabe von 1956
Es ist die französische Variante der kleinen Leute, die bienenfleißig und ohne Blick zurück ihre Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufbauen und den typisch spießigen Muff dieser Jahre bilden. Der Protagonist des Romans mit dem seltsamen Namen Jonas Milk, aus dessen Sicht Simenon ausschließlich erzählt, ist nicht nur klein von Statur, sondern klein sind auch die Verhältnisse, in denen er mitten in einer französischen Kleinstadt lebt. Vor allem sind seine Wünsche und Erwartungen an das Leben äußerst bescheiden.  Als Migranten kamen seine Eltern als Flüchtlinge vor der russischen Revolution von 1917/18 nach Frankreich. Die Familie wird auf der Flucht  auseinander gerissen, die fünf Töchter  bleiben verschollen, der Vater kehrt erst spät aus Gefangenschaft zurück. Statt Paris, wo bereits Verwandte von ihnen lebten, ziehen sie in die Kleinstadt Berry, wo der Vater mit dem verbleibenden Rest ihrer Habe einen Fischhandel aufzieht. Jonas ist da vier Jahre alt:
Bis zum Schuleintritt hatte er kaum anders als Russisch gesprochen, um es danach vollständig zu verlernen. ...Rußland war für ihn ein geheimnisvolles und blutiges Land, wo seine fünf Schwestern, darunter Dussja,  samt der Tante Sina, vielleicht massakriert worden waren- wie die kaiserliche Familie.
Von der Schwelle dieses Fischgeschäfts am Marktplatz aus findet seine Sozialisierung statt, das eines überaus angepassten Migrantenkindes, das sich dafür schämt, wenn seine Eltern im Laden vor den Kunden Russisch sprechen. Er geht vollkommen ein in diese kleine Welt des Marktplatzes, in dessen unmittelbarer Nähe er später sein Geschäft mit Gebrauchtbüchern aufmacht, die er gegen Gebühr verleiht. 
Zu jedem Gesicht wußte er einen Namen; er erkannte jeden an seiner Stimme, und wer ihn unter der Türe stehen oder bei Le Bouc eintreten sah, rief ihm zu: "Bon Jour, Monsieur Jonas!"
Umschlagbild der französischen Ausgabe von 1956
Wie ein Kuckucksei wird ihm die nymphomanische Gina ins Nest gelegt, zunächst als Haushälterin - weil man ihm nahelegt, dass er seinen Haushalt unmöglich auf Dauer alleine führen könne - und später, geschickt durch Gina's Mutter eingefädelt, als Ehefrau. Weder in der einen noch in der anderen Rolle bringt sie Ordnung in sein Leben, das vorher geordneter kaum sein konnte. Aber als vorauseilende Anpassung geht er auf jeden leisesten Wink der anderen ein. Sein wie alle scheint ihm ein ehrgeiziges Ziel: Verheiratet, mit den sonntäglichen Kirchgängen und dem Besuch der saisonalen Dorffeste, bei denen er sich mit Gina zeigt - diesem Weib, das jeder haben, aber keiner heiraten wollte. Aber er, Jonas, nimmt sie zur Frau, ohne etwas dafür zu verlangen. Er konvertiert sogar vom Judentum - neben seiner Muttersprache ein weiteres ungelebtes Erbe seiner Herkunft - zum Katholizismus.
Es hatte ihm Freude gemacht, Christ zu werden; nicht nur wegen der Heirat, sondern weil ihn das den Bewohnern des Vieux-Marché noch näher brachte, die fast alle zur Kirche gingen.
Klein, schwer sehbehindert und von seinen dicken Brillengläsern gehandicapt, dazu noch der Altersunterschied  von 16 Jahren lässt ihn nicht auf eine sexuelle Erfüllung in dieser ungleichen Ehe hoffen und er traut sich kaum, auch nur davon zu träumen. Was er Gina anbietet, ist der sichere Hafen einer ehrbaren Existenz ohne emotionale Ansprüche. Sie nutzt diesen Schutzschild denn auch kräftig aus und geht ungehindert fremd so oft ihr danach ist. Für Tage verschwindet sie zuweilen, während er sich an sein Verprechen hält und sie gewähren lässt ohne den geringsten Vorwurf. Der Roman setzt mit ihrem neuerlichen Verschwinden ein, diesmal  am helllichten Tag. Darüber hinaus hat sie den wertvollsten Teil seiner Briefmarkensammlung mitgehen lassen - ein Hinweis darauf, dass es sich hier um mehr handelt als um eine ihrer sonstigen Ausreißtouren.
"Sie ist nach Bourges gefahren", lügt er notorisch bei jeder Frage nach seiner Frau. Obwohl er dies als idiotisch ansieht, hält er an dieser Lüge fest und fügt weitere Lügen hinzu, um die erste zu untermauern. Dass es eine Lüge ist, wird schnell klar. Schleichend umkreisen ihn die wiederholten  Fragen nach Gina und mit Verbitterung stellt er fest, dass denen, die hier so heuchlerisch anteilnehmend fragen, sich nie  um Ginas' Eskapaden geschert, sondern diese eher mit einem sardonischen Lächeln begleitet haben. Jetzt aber scheint ihnen ihr Wohlergehen plötzlich sehr am Herzen zu liegen.
An diesem Sonntag ging er wie alle anderen zur Messe, nur war es das erste Mal, daß er allein ging. Als er seinen Platz aufsuchte, schien es ihm, daß man ihn mit den Blicken verfolgte und daß sich manche mit den Ellenbogen anstießen.     
Schließlich kommt es zu einer Vorladung bei der Polizei und zu einem Verhör, das ihm das Herz gefrieren lässt. Jemand hat ihn wegen des "Verschwindens einer Person" angezeigt, natürlich anonym. In diesem Verhör wird er zum russischen Juden, schlimmer noch, zu einem konvertierten Juden. Sein Übertritt zum Katholizismus wird ihm nun als Berechnung ausgelegt, weil die Eltern Ginas nach Meinung des Kommissars ihre Einwilligung zur Heirat sonst niemals gegeben hätten. In diesen mutwilligen Missinterpretationen und Verdrehungen der Tatsachen richtet dieses Verhör eine verheerende innere Verletzung in Jonas an. Dazu kommt der für ihn völlig unerwartete, aus dem Hinterhalt hervorkriechende Judenhass. Er wird sogar gefragt, warum er den Judenstern nie getragen habe, da er ja während der deutschen Besatzungszeit nach Frankreich gekommen sei. Er habe sich also wohl vor den Konsequenzen gedrückt, als Jude erkannt zu werden. Jonas war zu diesem Zeitpunkt wie bereits erwähnt erst vier Jahre alt. Das allerdings verschlägt ihm und sicher auch jedem Leser endgültig die Sprache. Aber Simenon stattet hier seine Figur mit einem schier unmenschlichen Willen zur Anpassung aus.
Nicht um sie zu täuschen, hat er den gelben Stern nicht getragen, und auf die Gefahr hin, in ein Konzentrationslager verschickt oder zum Tode verurteilt zu werden. Er hatte die Gefahr selbstverständlich auf sich genommen, weil er wie die anderen sein wollte.  
Auch dass er den wertvollsten Teil seiner Briefmarkensammlung, den Gina für ihre offensichtlich geplante Flucht hat mitgehen lassen, nie zu Geld gemacht und statt dessen ein bescheidenes Leben geführt hatte, wird ihm zur Last gelegt. Letztendlich wird einfach alles verdächtig, was ihn, der so sehnsüchtig sein wollte wie alle, von den anderen unterscheidet: Denn niemals hätten diese  ein 'Flittchen' geheiratet, niemals hätten sie die Ehebrüche ihrer Frauen hingenommen, ohne sich diese mal richtig vorzunehmen und selbstverständlich hätten sie an Jonas' Stelle die Briefmarkensammlung zu Geld gemacht, um ihrer kleinbürgerlichen Existenz zu entfliehen und sich den kindlichen Traum vom großen Leben zu verwirklichen.

Nachdem zwei Polizisten ihn zurück in seine Wohnung begleiten, um auch noch das Allerprivateste in einer nicht genehmigten Hausdurchsuchung zu befingern, der Jonas selbstverständlich zustimmt, ist für ihn nichts mehr wie es vorher war. Auch die verhuschte, in seinem Laden gemachte Aussage einer Putzfrau eines Hotels am Ort ändert nichts mehr für ihn. Gina hat sich laut dieser Zeugin, die natürlich in nichts hineingezogen werden möchte, regelmäßig mit ihrem Liebhaber getroffen. Von dort ist sie am Nachmittag ihres unrühmlichen, aber vohersehbaren Abgangs mit ihm in seinem Auto davongefahren. Innerhalb von wenigen Tagen hat diese eingeschworene Gemeinde, in dessen Mitte er glaubt, aufgenommen worden zu sein, seine Integration zunichte gemacht, einer Integration, zu der sie nichts beigetragen haben. Vermutlich können sie ihn deshalb so mühelos ausstoßen, weil er nie einer von ihnen war.

Simenon lässt diese Geschichte minutiös innerhalb von nur vier Tagen stattfinden und nutzt wie alle Schriftsteller das Mittel der Überzeichnung. Er ermöglicht uns, in der Figur des Jonas Milk eine Perspektive einzunehmen, die das Märchen vieler Integrationsgeschichten entlarven, wenn es denn, wie gerade durch die Anschläge in Paris zu Verdächtigungen kommt, die eine gesamte Gruppe von Migranten unter Generalverdacht stellt. Von 'Säuberungen' spricht da der belgische Innenminster und macht genau das klar, was Simenon in seinem Roman so feinnervig nachzeichnet: Alles kann jederzeit in neuer Gestalt wiederkehren, wenn nur der Anlass dazu dies vermeintlich rechtfertigt. Nichts kann offensichtlich so leicht mobilisiert werden wie Fremdenhass oder wie im Mordfall an der elfjährigen Lena aus Emden zur Vorverurteilung, die in diesem Fall sogar bis zum Aufruf zur Lynchjustiz führte. Lehnen wir uns also nicht zurück in der Gewissheit, dass 1956 zum Zeitpunkt des Erscheines des Romans alles anders war.

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