Mittwoch, 21. April 2021

"Roter Mohn" - ein Roman von Alai aus dem finsteren Tibet

"Roter Mohn" ist der erste Roman des Schriftstellers Alai von 1998, der zunächst Gedichte und Erzählungen in der Zeitschrift "Tibetische Literatur" veröffentlichte.  Auch "Roter Mohn" spielt in Tibet Anfang des 20.Jahrhunderts, im äußersten Osten des Reiches im Grenzgebiet zu China. Dabei vemiest Alai jedem Tibetromantiker gründlich die Vorstellung von einem Garten Eden in den Bergen des Himmalaya. 

Denn die feudalistischen Verhältnisse, die Alai mit den Augen des Ich-Erzählers - Sohn des Fürsten Maichi -  beschreibt, werden ungeschminkt und vermeintlich naiv festgehalten. 

Dieser stammt aus zweiter Ehe mit einer chinesischen Konkubine -  im Alkoholrausch gezeugt - und gilt als debil. Was er um sich herum sieht und beschreibt, zeugt von Gier, Dummheit und Ignoranz und versammelt damit in geradezu kathartischem Kanon die drei buddhistischen 'Hauptsünden' von Verwirrung, symbolisiert durch die Tiere Hahn, Schwein und Schlange.

"Ein Idiot liebt oder hasst nicht, sondern sieht nur die nackten Tatsachen", sagt er über sich selbst, denn er ist als Zweitgeborener ohnehin nicht zum Thronnachfolger bestimmt. Sein Vater ist der mächtigste Herrscher unter den Fürsten, die Tibet unter sich aufteilen und hält große Stücke auf den aus erster Ehe geborenen Sohn seiner verstorbenen Frau, der für seine Nachfolge bestimmt ist. Dieser ist ein verwegener  Reiter, ein Frauenheld und Raufbold, immer bereit für einen schönen Krieg mit den Nachbarfürsten oder einfach nur, um über Land zu reiten, zu jagen und dabei das einfache Volk zu demütigen. 

 Blick auf Lhasa und Potala 1938, Bildquelle: Bundesarchiv Bild, wikimdia commons

Eben dieses einfache Volk bildet die unmittelbare Umgebung des Ich-Erzählers. Seine Amme ist seine erste Geliebte, die Kinder des Henkers und des Schmieds seine Spielkameraden. Sie prägen sein unverstelltes Bild über die Welt, in der er lebt und weil alle ihn für einen Idioten halten, überlässt man ihn ohne höfische Kontrolle seinen Launen und dem Umgang mit den unstandesgemäßen Handwerkern und Bediensteten. Wie ein klassischer Hofnarr darf er ungestraft alles sagen, was er denkt, ist es doch nur das Geschwätz eines debilen Kindes. 

Auch zeigt Alai auf, wie sehr die Fürstenreiche Tibets schon immer vom mächtigen Einfluss Chinas abhängig waren:

"Es hat in der Geschichte Fürsten gegeben, die ihre Nachbarn geschluckt haben, doch dann rückten die kaiserlichen Truppen Chinas ein, und der angreifende Fürst war hinterher nicht einmal mehr Herr über sein eigenes Gebiet. Weil die Straßen Richtung China so schlecht waren, vergaßen manche Fürsten mit der Zeit, woher sie ihren Titel überhaupt hatten ..."

Es sind ein paar unscheinbare braune Samenkapseln, die sich als Mohn herausstellen, die der chinesische Gesandte neben Waffen und dem Versuch, eine Art Militär zu errichten, in das verschlafene Fürstentum bringt. Ahnugslos werden diese angepflanzt und schon der betörende Duft der Blüten berauscht den Fürsten, der in diesem Rausch den Nachbarfürsten bei dessen Besuch von seinem Verwalter umbringen lässt. Scharf auf dessen Frau macht er diese zu seiner Zweitfrau. In bestürzender Einfachheit beschreibt der Protagonist diese Ereignisse. Der Verwalter des Fürsten muss nun ebenfalls getötet werden, vermeintlich als Strafe für den Mord, um zu verschleiern, dass er diesen als Befehl nur ausgeführt hat. Daraufhin schwören die Söhne des Verwalters der Fürstenfamilie die Blutrache für ihren Vater, die zusammen mit ihrer Mutter aus dem Land verbannt werden.

Interior view of an opium den, Bildquelle: wikimedia commons

Elendiglich wird der bewunderte Bruder an einem ersten Attentat daran sterben. Damit fiele die Nachfolge des Fürsten auf den debilen Sohn aus zweiter Ehe, auf den sich damit auch die Blutrache überträgt. Aber der alternde Fürst, geblendet durch seine sexuellen Freuden mit seiner neuen Frau und dem unermesslichen Reichtum, den die Opiumernte erbracht hat, kann sich nicht entschließen, darüber zu entscheiden. Vielmehr schickt er seinen nun einzig verbliebenen Sohn ans äußerste Ende seines Reiches, wo er Festungen aufbauen ließ, die dieser betreuen soll. 

Der Opiumhandel bringt letztendlich den Wandel mit sich. Denn die Samen dringen trotz erheblicher Sicherheitsvorkehrungen in die Nachbarreiche, die ebenso reich werden wollen. Von da an wird statt Getreide nur noch Mohn angebaut, was  zu immensen Hungernsöten führt. Die vier Festungen verwandelt der 'Idiot' zu Kornspeichern von Getreide und verhindert damit - neben dem erneuten Reichtum als einziger Produzent von Nahrungsmittlen -  dass das so rückständige und von idiotischer Führung gekennzeichnete Reich nicht untergeht.  

Opiumpflanze, Bildquelle: wikimedia commons

Letztendlich ist es der Protagonist, der die Nachfolge für ein so debiles Reich obsolet macht, da er schon längst eine neue Zeit eingeläutet hat, in der der Fürst nur noch der Statthalter eines überkommenen Regimes ist. 

"Ich wusste genau, wann ich mich wie der intelligenteste Mensch der Welt verhalten musste, um den Leuten, die mich verachteten, einen gehörigen Schrecken einzujagen. Wenn sie es dann mit der Angst zu tun bekamen und mich wie einen denkenden Menschen behandeln wollten, gebärdete ich mich wieder wie ein Idiot."

Neben all diesen turbulenten Ereignissen kommt auch die Kaste der Mönche nicht gut weg, die in enger Symbiose die Herrschaft der Fürsten begleitet und eine wenig rühmliche Rolle abgibt:

"Die Lamas der Festung und des Tempels führten Trommelmusik und Maskentänze vor, ein Wettbewerb, auf denen sie all ihre Kräfte verwendeten. Um ehrlich zu sein, wir liebten diese Konkurrenz unter den Lamas, denn sonst wären sie alle zu untastbar. Ohne diese Konkurrenz würden sie ständig erzählen, der Buddha sage dies, der Buddha sage jenes, und selbst der Fürst könnte nichts dagegen sagen. Aber sobald es Probleme zwischen ihnen gab, kamen sie gelaufen und boten an, für die Familie des Fürsten Gebete zu sprechen. Sie garantierten, dass ihre Gebete wirkungsvoller seien als die der anderen."
Mönche vor dem Tsuklahang, Pälkhor Chöde, Gyantse
Bildquelle: wikimdia commons

Auf diese Weise rückt Alai die Geschichte Tibets, wie wir sie im Westen lange verklärt gesehen haben oder immer noch sehen, in ein wesentlich realistischeres Bild, ohne die Rolle Chinas zu beschönigen. Der Reiz des Archaischen wird hier zu brutaler Rückständigkeit, die vielgerühmte Spiritualität zu farbenprächtigem Opportunismus.

Alai bekam dafür den wichtigsten chinesischen Literaturpreis. Der Unions-Verlag hat sich für die Herausgabe und Übersetzung tibetischer Literatur verdient gemacht, die uns liebgewonnene Klischees korrigieren lässt und uns ausserdem bemerkenswerte Litertur zugänglich macht.

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