Dienstag, 28. Juni 2022

Die Palästinenser:innen sind immer noch da

Das Schweigen brechen  - das wollen ehemalige israelische Soldaten und Soldatinnen, die bei ihren Einsätzen in den von Israel besetzten Gebieten Menschenrechtsverletzungen an Palästinenser:innen begehen und anonym darüber Zeugnis ablegen wollen. Dazu liefert die NGO Breaking the Silence (BTS),  die sich 2004 gegründet hat, eine Plattform, auf der diese Berichte veröffentlicht werden. Sie liegen in Audios, Videos und in schriftlicher Form vor und geben einen tiefen Einblick in die Arbeit der  55 - jährigen militärischen Besatzung, deren Befehle täglich von israelischen Soldat:innen ausgeführt werden.

Aufmacher auf der Internet-Seite von BTS

Die Dokumentarfilmerin  Silvina Landsmann hat über diese Organisation, die in Israel höchst umstritten ist und massiv angefeindet wird, 2021 einen Film mit dem Titel "Silene Breakers" gedreht. Sie zeigt BTS in ihrem Büro bei der Sichtung von Audios und bei der Durchführung von Touren für Tourist:innen und Isrealis in die besetzten Gebiete. Diese Touren müssen von höchster Stelle genehmigt werden. Sie werden oft durch radikale isrealische Siedler:innen und den IDF (Israelis Defense Forces) gestört, die trotz dieser Genehmigungen den Zugang erschweren oder ganz verbieten. 

Einer der Hotspots dieser Touren ist die Stadt Hebron oder al-Chalīl, wie die Stadt auf arabisch heißt, 30 Kilometer südlich von Jerusalem. Hebron ist seit 1997 eine geteilte Stadt, kurz in H1 und H2 aufgeteilt. 30.000 Palästineser:innen leben in H2 mit 800 israelischen Siedler:innen, die den ungeteilten Schutz der IDF genießen. Die militärische Präsenz und die Checkpoints dienen zur Kontrolle über die palästinensche Bevölkerung. 202.000 Palästinenser:innen leben in H1. Häufige Ausgangssperren erschweren täglich ihr Leben, Siedlergewalt - auch an Schulkindern - wird fast ausnahmslos ohne Einschränkung  von den IDF geduldet oder mitgetragen.

Ebenso eindrücklich sind die Szenen, die sich bei den Touren von BTS abspielen. Soldat:innen treten der Gruppe, die aus dem Reisebus steigt, entgegen, kontrollieren die Genehmigungen, verzögern oder behindern den Zugang. Währenddessen treten regelmäßig Siedler:innen auf: Beschimpfungen bis hin zu bodychecks und penetranten Hupkonzerten von Autos, die im Schritttempo  neben der Gruppe herfahren - so versuchen sie die Ausführungen der Guides von BTS zu behindern oder massiv zu stören. Die sprachlichen Entgleisungen gehen von "Lügner", "Verräter" bis hin zu "Terroristen" und ""Schw***lutscher" für palästinsische Männer. Erst wenn Siedler:innen drohen, gewalttätig zu werden, schreiten die Soldat:innen ein. 

Palästinenser werden am Zutritt in ihre Häuser gehindert,
während ein Marsch von Israelis durch Hebron stattfindet, eskortiert von IDF. Foto: Ina Zeuch

Daneben filmt Sivina Landsmann viele Szenen von Diskussionen in den Büroräumen von BTS, die zeigen, wie kontrovers die Gruppe der Aktivist:innen ist. Sie ringen um ihr Selbstverständnis, gute Soldat:innen zu sein und ihr Land zu verteidigen und der Diskrepanz zu ihren Taten bei der Ausführung von Befehlen, die sie von oberster Stelle zu Menschenrechtsverletzungen zwingt. Immer wieder betont Jehudin Shaul, Begründer von BTS, dass  in einem unmoralischem System kein moralisches Handeln möglich ist.

Kritiker von BTS sind genervt, dass wieder die Israelis die Opfer sind - Soldat:innen, die unter den Menschenrechtsverletzungen leiden, die sie den Palästinenser:innen antun (müssen) und die dann ihr Gewissen durch ein Geständnis bei BTS erleichtern. Aber die NGO verurteilt inzwischen zunehmend mehr die Besatzung wie der Aufmacher auf ihrer Internetseite deutlich macht. Der Film endet mit dem Gerichtsurteil, dass für die NGO ausgefallen ist: Sie werden nicht als Verräter:innen von militärischem Geheimwissen verurteilt und müssen deshalb die Namen ihrer Zeug:innen nicht preisgeben.

Militäreinsatz in Hebron. Foto: Ina Zeuch

Erhellende Einblicke zur Geschichte von BTS und der allgemeinen Stimmung in Israel gibt Dr. Shir Hever, der nach dem Film per Zoom zugeschaltet ist und sich zur Zeit in Jerusalem aufhält.

Dr. Shir Hever ist Wirtschaftswissenschaftler und Mitglied der Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost e.V. und Geschäftsführer von Bündnis für Gerechtigkeit zwischen Israelis und Palästinensern. Er beschreibt die Entwicklung von BTS, die zunächst vom Wunsch geleitet war, Teil der 'moralischsten Armee der Welt' zu sein und das Existenzrecht Israels zu verteidigen hin zur Beendigung der Besatzung. In Israel wurde der Film "Silent Breakers" auf hebräisch mit "Guter Soldat" übersetzt und wird dort nicht gezeigt. Er gilt, falls er überhaupt bekannt ist, als Werbefilm für BTS.

Eine fünfjährige Recherche hat zuletzt auch Amnesty International davon überzeugt, dass dem Staat Israel Apartheid vorgeworfen werden muss (MediaWatch berichtete). B'tselem und Human Rights Watch waren schon früher zu diesem niederschmetternden Ergebnis gekommen. Auch solche Einschätzungen tragen natürlich zum Unmut in Israel bei. Trotz massiver Vertreibungen, massenhaften Inhaftierungen - auch von Kindern und Jugendlichen - ohne Gerichtsprozesse und außergerichtlichen Tötungen wie sie die Vereinten Nationen in den besetzten Gebieten alle zwei Wochen in ihren Berichten auflistet: Die Palästinenser:innen sind immer noch da. 

Absperrungen und Symbole der Israelflagge in H2, Foto: Ina Zeuch

In Israel wird nach wie vor das Narrativ von der IDF als der 'moralischsten Armee der Welt' und Israel als der 'einzigen Demokratie in Nahost' gepflegt. Die jüdische Bevölkerung ist das Opfer und die Palästinenser:innen - in Israel nur Araber genannt - sind Täter:innen. Der gemeinsame Nenner in der israelischen Diskussion um die Besatzung, den Shir Hever ausmachen kann, ist die Angst vor dieser nicht schwindenden palästinensischen Präsenz. Gleichzeitig brechen die israelischen Regierungen in immer rascherer Folge zusammen. Im Oktober wird es wieder Neuwahlen geben. Hever hält Benjamin Netanjahu für einen der großen Profiteure dieser Angst in Israel. 

Organisiert wurde diese Veranstaltung von der palästinensischen Gemeinde in Bonn zusammen mit der Kinemathek der Brotfabrik Bonn, die am 20. Juni stattfand.

"Fusion Flags", Bild und Foto: Ina Zeuch

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