Sonntag, 27. Februar 2011

Warum malt jemand Fernsehen? Gastbeitrag von Uwe Kerkow

Warum macht sich jemand die Mühe, irgend eine mäßig funktionierende Flimmerkiste in einem indischen Hotel auf Leinwand zu verewigen? Ein Gastbeitrag von Uwe Kerkow zu einer Werkreihe von Ina Zeuch.

Ina Zeuch: "Dharma news", Acryl auf Leinwand, 2010


Die Antwort ist eigentlich vergleichsweise einfach, und sie besteht aus zwei Teilen.

Erstens: Die Ästhetik ist cool

Das Flimmern, Rauschen, Knarzen und Flackern von Bild und Ton aus der Kiste hat großen ästhetischen Reiz, und das ist auch schon seit 50 Jahren Thema moderner Kunst. Allerdings gerät diese Tatsache hierzulande angesichts der tischgroßen, flimmerfreien, hochauflösenden Plasmabildschirme mit 5.2 Dolby Surround Sound nach und nach in Vergessenheit.
Dazu kommt natürlich die saftige, kitschige und unverwechselbare Farbgebung der indischen Film- und Fernsehmacher, die üppige Ausstattung sowie die fantastischen Klamotten und der fetzige Schmuck.Wenn schon nicht produktionstechnisch, so haben doch das gestalterische Können und die psychologische Raffinesse von "Bollywood" längst Weltklasse erreicht.

Ina Zeuch: "Samsara channel", Acrtyl auf Holz, 2010 (Ausschnitt)
Zweitens: Das Thema Fernsehunterhaltung ist wichtig.

Das klingt erst einmal banal. Das Fernsehen ist zu einer wichtigen Leittechnologie geworden und prägt unser Leben ganz erheblich. In einem deutschen Haushalt läuft die Kiste jeden Tag im Durchschnitt fünf Stunden.

So heftig ist es in Indien noch nicht, wo Lesekundige täglich rund 1,5 h vor der Beule verbringen und eine weitere Stunde Radio hören. Dem stehen 70 Minuten im Netz und etwa die gleiche Zeit des Lesens von Gedrucktem gegenüber. Was die Bedeutung des Fernsehens in Indien aber zusätzlich steigert: Ein Drittel aller InderInnen sind Analphabeten und in der besonders wichtigen Gruppe der 13 - 38 Jährigen immer noch 25 Prozent .

Das allein wäre Grund genug, Bilder zu malen, wie Ina Zeuch sie vorgelegt hat. Auch die Impressionisten z.B. haben sich den neuen technischen Errungenschaften in ihrer Umgebung gewidmet und Häfen, die Eisenbahn, Dampfschiffe oder neuartige Brückenkonstruktionen aus Stahl gemalt. Und auch, wenn diese Bilder uns Heutigen geradezu idyllisch anmuten, spiegeln die Werke die heute kaum noch vorstellbare Beschleunigung der Lebenswirklichkeit ihrer Zeitgenossen wider. Das wird dann deutlich, wenn man sie mit frühneuzeitlichen Arbeiten vergleicht. Wie weit sind etwa Rembrandts niederländische Landschaften von der Auffassung Turners entfernt.

Diese Feststellung führt uns zu der Frage, welche unmerklichen - sozusagen tektonischen - Verschiebungen im menschlichen Leben die hier ausgestellten Bilder wiedergeben. Angesichts der Unterhaltungsprogramme im Fernsehen liegt eine Betrachtung über die Reorganisation der persönlichen Beziehungen nahe.

Ina Zeuch: "Karmadrama", Acryl auf Leinwand, 2010 
Denn was nach schlichter Fernsehunterhaltung aussieht, ist in Wirklichkeit Zielpunkt und Ergebnis einer stillen Revolution: Die Durchsetzung der romantischen Liebe als hinreichende Begründung für Ehe und Kinder kriegen. Und das in einer Region mit über einer Milliarde Einwohner, wo seit Menschengedenken Ehen von Seiten der Eltern oder Familien vereinbart wurden und das Horoskop Auskunft über die Aussichten für die angestrebte Verbindung gab und immer noch gibt. Es gibt mittlerweile sogar zumindest eine Organisation in Indien, die verliebten Paaren zu einem Versteck vor ihren Familien und einer heimlichen Hochzeit verhilft.

Wir Europäer können diesen Modernisierungsschub kaum noch nachempfinden, weil wir selbst es waren, die als erste auf die Idee gekommen sind, dass es ok ist, Menschen zu verheiraten und eine Familie gründen zu lassen, "nur" weil sie sich lieben (und nicht um des Wohlstand, der Sternenkonstellationen oder der Kasten- respektive Standeszugehörigkeit willen). Die Durchsetzung dieses Konzepts hat etwa 150 Jahre gedauert und erfolgte nur unwesentlich früher als der Siegeszug der Dampfmaschine.

Mit der Kolonialisierung haben wir EuropäerInnen die Idee der Liebesheirat in die ganze Welt getragen. Heute besitzt diese Vorstellung den Status eines Menschenrechts. Wie lange aber Sexualität und Familienleben auch bei uns regulierenden Instanzen unterworfen waren, wird deutlich, wenn man sich daran erinnert, dass Homosexualität erst unter Helmut Kohl gänzlich von Strafandrohung befreit wurde (§ 175 StGB).

Vielleicht helfen diese wenigen Gedanken ja dabei, die Bilder noch einmal unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten und auf neue Weise Freude an ihnen zu haben und Interesse zu entwickeln.Wer mehr über die Künstlerin wissen möchte, kann auf der Website oder im Blog von Ina Zeuch stöbern.

Begriffserläuterungen: 

dharma (Sanskrit "große Ordnung", "Manifestationen der Wirklichkeit") wird das Gesetz und Ergebnis der karmisch bedingten Wiedergeburt genannt

Samsara (Sanskrit „beständiges Wandern“) ist die Bezeichnung für den immer-
währenden Zyklus des Seins, den Kreislauf von Werden und Vergehen und der
Wiedergeburten in den indischen Religionen und im Buddhismus.

Karma (Sanskrit „Wirken, Tat“) bezeichnet das Konzept in Hinduismus und Buddhismus, nachdem die Absichten unserer Handlungen Ergebnisse hervorbringen, die unseren weiteren Weg – nach Tod und Wiedergeburt - bestimmen.


English version:

Why does an artist pick motifs from an Indian blockbuster serial screened on a poorly working TV in an Indian hotel? The answer comes in two parts:

First part: the aesthetics are cool.

Flickering images have always interested visual artists. The décor of Indian films are gorgeous and Bollywood is already famous in the world for its artificial finesse and the dramatic mastery.

Second: the subject of TV entertainment is important and worth to come into paintings - for many reasons. In a German household the TV set runs is five (!) hours per day on average, in India about 1,5 hours per day. Additionally the average Indian spends 70 minutes per day in the internet and 70 more minutes reading print media.

What makes TV even more important in India is the fact that a third of the subcontinents population is illiterate. In the group of 13-38 years old it’s still 25 %. This alone would serve as a sufficient reason to paint pictures like Ina Zeuch has given us.
On top of this, artists have always worked on subject of every day life - including the technical modernization of their time. Impressionists for example have painted steamboats, steel constructions and the railways all of which sped up their life amazingly.

This leads us to the question what TV has shifted in our everyday life. TV serials often talk about love, family relationships, personal and tell private stories. The implementation of the romantic love concept in those stories is nothing less than a silent revolution. Love as a sufficient reason to found families, to marry and have kids together is spreading all over the planet. Arranged marriages - strictly following social affiliation - were common for ages in Europe, too. In India this is still the case: caste and horoscope name the partners. Colonialism and globalization have spread the concept of romantic love throughout the world - to marry and have kids ‘just’ because of love. 
In Europe this development took 150 years. Maybe these comments can help to look at Ina Zeuch’s paintings in a different way.

Using keywords of Buddhism - samsara, karma and dharma - for ordinary TV soaps in Indian TV reminds us of the fact that the ideas of Buddhism about the constant stream of confusion come very close to the constant struggle that is depicted in those soaps.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen