Sonntag, 5. Juli 2015

Armut ohne Ausstieg? Mike Davis' Studie "Planet of Slums"


Millionen Arbeitlose, überwiegend aus ländlichen Gebieten, suchen Metropolen wie Djakarta, Mumbai, Hongkong, Kairo oder die am schnellsten gewachsene Stadt Europas, Moskau, auf, um dort ihr Leben zu fristen - in der Hoffnung auf ein einigermaßen ausreichendes Einkommen. Dafür nehmen sie unvorstellbare und menschenunwürdige Lebensbedingungen in Kauf, um der Spirale nach unten dennoch nicht entrinnen zu können - so Davis in seiner Studie "Planet der Slums" von 2006.


Gerade einmal 20 Prozent der benötigten neuen Wohnungen werden in der Dritten Welt auf dem offiziellen Wohungsmarkt bereitgestellt, so dass die Menschen auf selbstgebaute Hütten, informelle Vermietungen oder Bürgersteige zurückgreifen, zitiert Davis eine Studie der International Labour Organisation ILO. Daneben hat seit den 1980er Jahren eine massive Deindustrialisierung in Metropolen wie Mumbai, Johannesburg, Buenos Aires oder São Paulo stattgefunden, die eine urbane Verarmung nach sich gezogen hat, die sich in wachsenden und neu bildenden Slums niederschlägt.

"Die klassische Urbanisierung nach dem Muster von Manchester, Chicago, Berlin oder Petersburg findet man heute noch in China und einigen wenigen anderen Orten... Überall sonst wachsen Städte weitgehend ohne Industrialisierung, schlimmer noch, ohne jegliche Entwicklung",  so Davis in einem Interview mit Tom Engelhardt. 
Unseren Planeten als "Planet of Slums" zu bezeichnen ist mehr als nur Rethorik. Die Zahlen, die Davis aufbietet, sind erdrückend. 95 Prozent des  Zuwachses der Menschheit werden in städtischen Gebieten in den Ländern des Südens leben. Dhaka, Kinshasa und Lagos sind heute (Stand 2004) vierzig mal größer als 1950. Neben diesen Zahlen werden einem die ineinandergreifenden Prozesse deutlich, die zu  den verschiedenen Auswirkungen von Armut führen. Einen Teil der Schuld von Verarmung sieht Davis in den Strukturanpassungsmaßnahmen des International Monetary Fund IMF, die den Entwicklungsländern  zur Entschuldung in den 1970er bis 1990er Jahren aufgezwungen wurden. Deren Privatisierungs- und Sparprogramme sahen den Rückzug des Staates nach neoliberalem Muster vor: Gespart wurde an Gesundheitsdiensten, Bildung, sozialem Wohungsbau. Wasser- und Stromversorgung wurden privatisiert und verteuerten sich dadurch erheblich. Einige dieser Maßnahmen wurden nach erbitterten Protesten wieder zurückgenommen,  z.B. in Südafrika, wo aufgebrachte Menschen öffentlich ihre ANC-Parteiausweise verbrannten, weil sie sich von ihrer Partei, die 1994 mit Mandela an die Macht kam, verraten fühlten.
"Demzufolge ist schnelles Städtewachstum im Kontext von Strukturanpassung, Geldentwertung und staatlicher Einsparungspolitik ein todsicheres Rezept für die Massenproduktion von Slums."  
Makoko, Lagos, 1.11.2010. Foto: Heinrich-Böll-Stiftung, Wikimedia Commons
Dazu kam eine Deregulierung der Landwirtschaft, die viele Bauern arbeitlsos machte und tief verschuldete. Die Besteuerung der Reichen blieb aus, stattdessen wurden oft Mehrwertsteuern  eingeführt oder das Schulgeld angehoben bzw. wieder eingeführt wie in Kenia. Leider haben viele Länder Asiens und Afrikas in ihrer nachholenden Entwicklung überwiegend diese Muster übernommen. Sie fördern private Investitionsprojekte, die als der entscheidende  Entwicklungsmotor angesehen werden, für die viele Länder unter enormen Kosten Infrastruktur bereitstellen wie  z.B. für die Freihandelszonen. Diese gehen oft mit Vertreibung von Menschen für die Firmengelände und einer brutalen  Marginalisierung von Armut einher. Auf dem zehnten Weltsozialgipfel in Dakar von 2011 sind die Anklagen an die Weltbank und den IWF deckungsgleich mit denen von Davis.  
"Angesichts der entstehenden Vorstadtslums gingen die Behörden einiger Länder massiv und mit leidenschaflicher Unterstützung seitens der urbanen Mittelklassen gegen informelle Siedlungen  vor." 
Eine der spektakulärsten Räumungen war die Planierung von Makoko mit militärischem Einsatz  in Nigerias Megacity Lagos, wo 1990 auf einen Schlag 300.000 Menschen  ohne Entschädigung obdachlos wurden. Heute ist dort eine schicke Siedlung für die obere Mittelschicht der Stadtplanungskommission Eko Atlantic, die hauptsächlich städtische Küstengebiete zu lukrativen Stadtprojekten entwickelt.    
Obdachloser in Kolkata. Foto: Ina Zeuch
Wohn- und Arbeitsstätte eines Obdachlosen in Kolkata. Foto: Ina Zeuch
Lukrativ heißt auch: Innenstädte werden überall in den Megacities - oder solchen, die es noch werden wollen wie Dakar  - von fliegenden Händlern und Armutsvierteln geräumt, um die kauffreudigen Mittelschichten und Touristen ungestört bei Laune zu halten. Dabei kosten Umsiedelungen an den Stadtrand armen Menschen bis zu 50 Prozent ihres Einkommmens, um zu ihren Arbeitsstätten zu kommen, die überwiegend in den Zentren liegen -  sei es, dass sie dort betteln, Abfall sammeln oder die Straßen fegen - so einige wenige Beispiele ihrer vielfältigen Tätigkeiten.

Dabei können die meisten Armen heute nicht emigrieren, wie es damals den europäischen Armutsflüchtlingen möglich war,  da die westliche Asylpolitik dies verhindert. Dort werden sie als Wirtschaftsflüchtlinge abgelehnt, die 'nur auf unsere Kosten' leben wollen, so die populistische Propaganda. Auch halten die westlichen  Arbeitsmärkte kaum noch Chancen für sie bereit hält. Im 18. und 19. Jahrhundert gab es eine große europäische Flüchtlingsbewegung nach Nord- und Südamerika sowie Kanada, wo es genug Arbeit gab, um dort einen Neuanfang zu wagen - für viele mit Erfolg. Diese Chance bleibt den heutigen Armen verwehrt.
Armutssiedlung in Chennai, Indien.Foto: Ina Zeuch
Darüber hinaus nimmt Davis uns liebgewonnene Bilder über Armut. Denn bei den immer enger werdenden Spielräumen für das Überleben zerbricht nach und nach auch die vielbeschworene Solidarität unter den Armen - einer der Klischees, die sich so hartnäckig halten. Vielmehr beuten auch Arme untereinander sich aus wie die berüchtigten Slumlords zeigen, die im Wesentlichen Mieteintreiber sind, sei es für den Platz auf dem Bürgersteig wie in Accra oder Mumbai oder weil sie vielfach eigenen Wohnraum teurer untervermieten. Stattdessen ersetzen immer mehr durch Loyalität erkaufte Gangzugehörigkeiten, tribalistische und religiös fundamentalistische Gruppierungen  die familiären oder nachbarschaftlichen Solidaritätsstrukturen, die zudem neue Identität in der Entwurzelung herstellen.

Eine zweite, uns vielleicht noch mehr ans Herz gewachsene Illusion über Armut, die uns Mike Davis raubt, ist die des Empowerment, dem Glauben an ein Engagement, auf dem viele der Nichtregierungsorganisationen (NRO), die in Armutsprojekten arbeiten, basiert. Sie propagiert  die Hilfe zur Selbsthilfe, mit der die Armen sich - praktisch ohne staatliche Zuschüsse - ein würdiges Leben in der Armut einrichten könnten. Er beschreibt dies geradzu als kontraproduktiv, indem Selbsthilfeprojekte dazu dienen, den staatlichen Rückzug auch noch zu befördern und als Erfolg zu feiern nach dem Motto, dass die Armen sich selbst aus ihrer Armut befeien könnten, wenn sie nur ein bisschen in ihrem Glauben an sich selbst bestärkt würden.

Reste eines Armutsviertels in Ataşehir, Istanbul. Foto: Ina Zeuch
Interessanter sind dagegen die Strategien, die sich Arme selbst aneignen, um ihre Lage zu verbessern. Eine davon ist die Landbesetzung, die sie gerne vor Wahlen veranstalten, um Politikern auf Wahlkampf Rechte abzutrotzen, die sie mit ihrer Stimme 'bezahlen'. Dabei ist Besetzung nicht unbedingt billiger als Landkauf: Korrupte Politiker müssen meist geschmiert werden, um Zugang zu Land zu bekommen, ohne sofort vertrieben zu werden. Aber die  Kosten für eine schrittweise Erschließung werden gestreut. Besetzungen erlebten in den 1970ern in Lateinamerika, im Nahen Osten und in Südostasien ihren Höhepunkt. Davis nennt sie "piratische Urbanisierung", die in Wirklicheit nichts anderes seien als "die Privatisierung des Besetzens".  Oft waren die Besetzer die Vorreiter für die Erschließung des zumeist staatlichen Landes, um dann doch  für profitable Mittelschichtsiedlungen vertrieben zu werden - umso perfider, wenn Arme geradezu ermuntert wurden, Land zu besetzen, um genau diesen Prozess einzuleiten. Heutige Besetzungen - so Davis - finden von vornherein in so prekären und geradzu aussichtslosen Gebieten statt wie an abrutschgefährdeten Hängen, auf kontaminierten Böden von Müllhalden wie in einem Slum von Accra oder an völlig verdreckten Bahndämmen wie in Indien.

Siedlung am Bahndamm von Hyderabad, Indien. Foto: Ina Zeuch
Davis macht vor allem eines deutlich: Armut ist so vielfältig wie Reichtum. Dafür beschreibt er differenziert und in vielen Beispielen die Auswirkungen auf die Städte des Südens  aus allen Kontinenten. So urbanisieren sich ländliche Regionen in Südchina an Ort und Stelle, Dörfer sind dort eher Marktplätze, Zwitterlandschaften von städtischer Landwirtschaft, "polyzentrische Geflechte ohne traditionelle Stadtkerne oder erkennbare Peripherien". Man fühlt sich an Will Gibsons "Sprawls" erinnert, die er in seinem SF-Roman "Biochips" erstmalig als neue Form der Be-,  bzw. Zersiedelung entwickelt.

Tatsache ist, dass Landflüchtlinge in der Stadt überleben, während sie auf dem Land verhungern würden und außerdem  - das gilt besonders für Frauen - engen traditonellen Vorstellungen entfliehen können. Frauen, die auf dem Land nur die Möglichkeit einer Heirat haben, die sie eventuell ökonomisch über Wasser hält, dabei aber trotzdem oft von der ganzen Familie in der häuslichen Arbeit ausgebeutet werden, können in der Stadt eine eigene ökonomische Basis aufbauen. So geben Näherinnen aus Bangladesch flehentliche Appelle an westliche Konsumenten ab, die Textilien aus ihrem Land nicht zu boykottieren, da sie mit dem Lohn in den Fabriken nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Familien finanzierten und - wie es eine der Näherinnen im Tanzstück von Helena Waldmann's "Made in Bangladesh" ausdrückt - ihnen einen "independant life-style" ermöglicht.

Arme flüchten nicht blindlings in die Städte, sie haben Vorbilder. Andere sind vor ihnen in die Städte gezogen und gelten in ihren Dörfern nicht selten als erfolgreich. Landflüchtlinge haben neben dem Ziel, zu überleben auch die Vision von einem selbstbestimmten Leben, selbst wenn wir uns hier unter selbstbestimmt mehr etwas wie 'Urban Gardening', integrative Wohnprojekte oder alternative Kulturzentren vorstellen.

Dieser Aspekt und der Blick auf die Lebensbedingungen in den ländlichen Gebieten im Vergleich zum Leben in der Stadt fehlt in Davis Studie "Planet der Slums" - ebenso der enorme Modernisierungsschub, der durch das entwurzelte Leben in den Städten in Gang kommt, allein durch die Anpassung an die verschiedensten Nischen, in denen Geld verdient werden kann.

Das Wäscherviertel Dhobi Ghat, Mumbai. Foto: Ina Zeuch
Das heißt nicht, dass man die katastrophalen Verhältnisse in den Slums und der zunehmenden städtischen Armut bemänteln muss. Sie hellen auch nicht das düstere Bild auf, mit der Länder wie Indien, Philippinen, Senegal, Brasilien  oder Südafrika extrem mitleidlose Mittelschichten hervorbringen, die nichts anderes im Sinn haben, als sich abzuschotten und um derentwillen zahllose Gated Communities und Shoppingmalls in den Zentren der Städte entstehen, die zu Vertreibungen von Armen führen. Das größte Hindernis ist  zweifellos die internationale Finanzpolitik, die  postkoloniale  Privilegien der Industrieländer einhegt  und global festschreibt. Aber offensichtlich ist die Armut auf dem Land und deren Überlebensbedingungen so hart, dass diese den äußerst prekären Arbeitsplätzen, die die harschen Modernisierungen in den Megacities hervorbringen, denen auf dem Land vorgezogen werden. Die Migration der verarmten Landflüchtlinge in die Städte ist bereits ihr Ausstieg, aber für die meisten ohne Einstieg. Sie handeln wie wir alle nach rationalen Erwägungen und träumen von einem besseren Leben -  dass dieses Leben so erbärmlich für uns aussieht, zeigt nur, wie tief die Kluft ist. 

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