Freitag, 2. August 2019

Über die verlorenen Kämpfe befreiter Sklaven - ein Roman von Syl Cheney Coker

Freetown heißt die Hauptstadt von Sierra Leone – ein Name, der Hoffnung und Sehnsucht nach Freiheit verrät, vom Aufbruch befreiter Sklaven kündet, die nach Afrika zurückkehrten in die langersehnte Selbstbestimmung. Aber wie war es wirklich?

Wie immer gibt es davon wenig Selbstzeugnisse - weder von den persönlichen Schicksalen der circa 11 Millionen verschleppten Afrikaner und noch weniger über ihr Leben als befreite Sklaven, das sie durch harte niedere Arbeiten in unterprivilegierter Stellung fristeten.
Schüler der Wesleyan High School, Sierra Leone. Quelle: The Sierra Leone Web
In seinem Roman "Der Nubier" verfolgt Syl Cheney-Coker die Geschichte des fiktiven Orts Malagueta über knapp 200 Jahre. Cheney-Coker beschreibt das Leben der Rückkehrer, die mit einem selbst finanzierten Schiff von Kanada ins ‚gelobte Land‘ übersetzen und dort siedeln. Der Roman mit dem weit weniger klischeehaften Titel "The Last Harmattan of Alusine Dunbar" erschien 1990 in deutscher Sprache.

Malagueta steht unverkennbar für Freetown, die Hauptstadt Sierra Leones. Coker stammt selbst aus Sierra Leone und so wie der Roman "Roots" des Afro-Amerikaners Alex Haley die Geschichte seiner Vorfahren recherchierte und zum Stoff für seinen Roman machte, so arbeitet Coker die Geschichte der ersten Siedler ehemaliger Sklaven in seinem Land auf.

Der Roman beginnt mit dem unabhängigen Staat Malagueta, der sich zu einer brutalen und kleptomanischen Diktatur entwickelt hat und gerade einen missglückten Putschversuch von General Tamba Masimiara durchgemacht hat. Jetzt sitzt der General im Gefängnis und wartet auf sein Todesurteil. Dabei lässt er das Schicksal seines Landes Revue passieren:
"Immer wieder hatte er sich über die hündische Unterwürfigkeit des Volkes und seine Fähigkeit gewundert, die Knute seiner Peiniger mit endlos anmutender Geduld zu ertragen (...) Machtgier bildete[n] den verabscheuungswürdigen Lebensinhalt jener kleinen Generalissimos, die der Kontinent immer wieder gebar, der Rechtsanwälte und Robenträger, die, einmal an der Macht, zu Politbanden mutierten."
Die erste Generation der Neuankömmlinge - deren Hauptfiguren Jeanette Cromatime und Gustav Martins sind, bauen ihre Existenz mühselig und mit harter Arbeit auf. Keineswegs sind sie in ein leeres Land gekommen. Sie müssen sich mit den Einheimischen arrangieren, die ihnen die unfruchtbarsten Äcker überlassen und ihnen ein Heiratsverbot mit ihren Frauen auferlegen.

In dieser multi-ethnischen Zusammenstellung - die ehemaligen Sklaven, die jetzt Siedler sind, stammen von überall entlang der afrikanischen Küste - entwickeln sie nach Cokers Erzählung einen erstaunlich gut funktionierenden Zusammenhalt.
Holzhäuser (‚Creole-Houses‘) in Sierra Leone, erbaut von den Nachfahren der ehemaligen Sklaven. Foto: Uwe Kerkow
Viele von ihnen sind aufgrund des sexuellen Missbrauchs ihrer Sklavenhalter Mulatten. Jeanette Cromatime ist nur noch zu einem Achtel Afrikanerin. Die als Kreolen bezeichneten Afrikaner sind besonders bestrebt, ihre afrikanische Identität wieder zu finden, so fiktiv sie auch sein mag. Denn ein Leben auf den Bauwollfeldern der amerikanischen Südstaaten hat ihnen nur eine ungefähre Vorstellung ihres afrikanischen Ursprungs hinterlassen, die mehr von Träumen und Fantasien geprägt ist.

Seuchen und Naturkatastrophen zwingen die Siedler dazu, immer wieder neu anzufangen und verlangen ihnen eine Flexibilität und ein Improvisationstalent ab, die Coker detailliert beschreibt. Nach und nach entsteht eine Gesellschaft, die viele Krisen meistert und sich durch einen hohen integrativen Charakter auszeichnet. Denn immer wieder kommen Neuankömmlinge nach Malagueta, die den Zusammenhalt bereichern wie herausfordern. Einige, wie zum Beispiel ehemalige Großgrundbesitzer, die vor den Aufständen auf den karibischen Inseln geflohen sind, bringen eine Herrenmentalität mit sich, die nichts mit dem Freiheitsdrang der ersten Siedlergeneration gemein hat.

Gleichzeitig gibt es Relikte aus der Sozialisation der Sklaverei und Sklavenbefreiung, bei der die Christianisierung eine große Rolle spielte. Frauen bauen eine Kirchengemeinde auf, die jegliche Bildung außer der katechistischen verbieten möchte. Das führt zu massiven Konflikten mit dem Willen nach einem freiheitlichen Leben - jenseits von einem weißen, strafenden Gott als Ausdruck der verhassten, sich überlegen gebärenden Rasse der Weißen. Mühselig, aber stetig bildet sich das Konzept einer säkularen Bildung heraus, die zur ersten Schule in Malagueta führt.

Das Fourah Bay College in Freetown ist übrigens die älteste moderne Universität im subsaharischen Afrika und die erste, in der westliche Bildung vermittelt wurde. Das College wurde am 18. Februar 1827 als anglikanische Missionsschule gegründet und besteht noch heute als Teil der Universität von Sierra Leone.

Piraten  legen an, mit denen man Handel treibt. Eine erste Rotlichtzone entsteht in Hafennähe. Sie sind die eigentlichen Kontrahentinnen der katholischen Frauen, denen sie ihr Bildungsmonopol erfolgreich streitig machen. Überhaupt geht bei Coker viel von den Frauen aus, sie prägen das Zusammenleben mit immer neuen Impulsen der Anpassung an die Herausforderungen.
Englische Soldaten in Freetown, um 1920. Quelle: The Sierra Leone Web
Diese Gesellschaft zerrüttet in einem langwierigen Prozess der Re-Kolonialisierung durch Captain Hammerstone, einem englischen Kapitän, der als gescheiterte Existenz von Malagueta gehört hat und sich dort neu bewähren möchte. Mit "dem Hochmut eines Eroberers, beinahe wie Attila an der Spitze der Hunnen" betritt er das Land. Statt einem Haufen ungebildeter Schwarzen, die in der Wildnis ein unzivilisiertes Dasein fristen, findet er eine afrikanische Republik vor, die sich eine eigene, höchst diverse Mischkultur mit einem fragilen Gleichgewicht aus fiktiven afrikanischen Bräuchen, dem Erlernten aus der Sklavenzeit und einem unbändigen Freiheitswillen aufgebaut hat.

Das Auftreten Captain Hammerstones mit seinen Männern erscheint den Malaguetern so absurd, dass sie ihn gleichmütig gewähren lassen. Ein fataler Fehler: Denn hinter dem Kirchhof entsteht die erste Garnison der britischen Neuankömmlinge. Sie profitieren zunächst von der diversen, integrativen Struktur der malaguetischen Gesellschaft, die sie nach und nach spalten, um sie von innen her zu zersetzen.

Viel zu spät beginnt der Kampf der Malagueter gegen die britische Übernahme, die nicht nur eine Handelsstation aufbauen wollen, sondern auch eine ganze Kolonie, die der britischen Krone direkt unterstellt ist. Dreiste Verbote und Erlasse des Kapitäns bis hin zu Straßenkontrollen führen zu einem ersten Aufstand der Malagueter. Es folgt ein jahrzehntelanger Kampf um die bedrohte Unabhängigkeit, in dessen Verlauf die wichtigsten WiderstandskämpferInnen in den Untergrund gehen. Diese langwierige und zähe Auseinandersetzung nutzen die Briten, um die Malagueter zu spalten. Die besten Kämpfer fehlen und leben nur noch in Erzählungen fort. So rekrutieren die Besatzer erste Kollaborateure, heben Soldaten aus und gewinnen durch bezahlte Jobs auch unter den Frauen an Zulauf. Die versiertesten Ideologen und die Elite der Gesellschaft geraten in Vergessenheit, die erste Generation der Siedler stirbt aus.

Als die britische Krone das Land 1962 der Unabhängigkeit übergibt, ist bereits eine afrikanische Klientel entstanden, die die Gier und Skrupellosigkeit der Besatzer längst übernommen hat. Es ist diese verfahrene Situation, die Coker als Ausgangspunkt für seinen Roman nimmt.

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